Hobby-Jäger helfen dem Waldumbau nicht

Hobby-Jäger helfen dem Waldumbau nicht

Mai 25, 2021 Aus Von mfsimba

Immer wieder flammt die Debatte über den Umbau des Waldes und die Forderung nach einer noch stärkeren Bejagung von Rehen oder Hirschen auf. Doch ist es die Lösung, noch mehr dieser hoch reproduzierenen Wildtieren zu schiessen? Der renommierte Zoologe und Ökologe Prof. Josef H. Reichholf sagt nein: So werden sich weder der Wald noch das Klima retten lassen.


Der Waldumbau ist notwendig. Weil die Wälder klimastabil werden müssen. Doch Rehe verbeissen die jungen Bäume. Sie verhindern die Waldwende. Also müssen noch mehr geschossen werden als bisher. Bis neue Wälder von selbst aufwachsen. Der Bund Naturschutz in Bayern, der Ökologische Jagdverband und Waldbesitzer forderten dies unlängst in einer Pressemitteilung.

Das Ansinnen klingt nachvollziehbar. Bei genauerer Betrachtung ist es dies aber nicht. Denn der Rehbestand wird schon seit Jahrzehnten sehr intensiv bejagt. Tendenz steigend, den Jagdstrecken zufolge. Der Naturverjüngung in den Wäldern half dies anscheinend nicht. Warum? Ein kurzer Blick auf das Reh selbst und seine Lebensweise hilft weiter.

»Ein anhaltend hoher Jagddruck von rund einer Million abgeschossener Rehe pro Jahr in Deutschland hat den Bestand nicht auf gewünschte Höhe reguliert, sondern auf hohem Niveau hoch produktiv gehalten«.

Prof. Josef H. Reichholf

Das heisst: Je mehr Rehe oder Hirsche geschossen werden, umso stärker vermehren sie sich.

Das Reh ist seiner Natur nach kein Waldtier. Die Kitze setzt es bekanntlich nicht im schützenden Waldesdickicht, sondern draussen auf den Fluren, am liebsten in Wiesen. Leider, denn dort werden sie allzu leicht von Mähmaschinen verstümmelt. Davor, im Frühjahr, sehen wir Rehe auf den Feldern. Ganz offen. Wo sie nicht oder wenig bejagt werden, würden sie sich auch die übrige Zeit des Jahres frei auf den Fluren aufhalten. Ab Herbst in Gruppen, die von den Jägern »Sprünge« genannt werden.

Rehe sind von ihrer Natur her Bewohner von Wiesen und dem Waldrand. Erst die Jagd der Hobby-Jäger treibt die Tiere in den Wald hinein, wo sie dann keine – für sie lebenswichtigen – Gräser und Kräuter finden und ihnen nichts anderes bleibt, als an Knospen zu knabbern. Durch die Jagd werden die Wildtiere unnötig aufgescheucht, was ihren Nahrungsbedarf und damit die Frassschäden oft weiter erhöht.

Doch abgesehen vom Frühjahr machen sich die Rehe nahezu unsichtbar. Sie warten bis in die Nacht hinein, bis sie sich hinauswagen auf die Fluren. Denn die starke Bejagung hat das Rehwild scheu gemacht, sehr scheu. Nur die vorsichtigsten Rehe überleben. An ihrem Verhalten orientieren sich die Jungrehe. Ergebnis: Die Rehe wurden geradezu hineingedrängt in die Wälder. Einen grossen Teil ihrer täglichen Nahrung müssen sie darin aufnehmen. Dabei verbeissen sie auch die Knospen junger Bäume. Bevorzugt sogar, denn diese enthalten die vom Reh benötigten Nährstoffe in günstiger Konzentration. Rehe sind wählerisch. Sie müssen dies sein bei ihrem schlanken Körperbau und kleinem Magen.

Fressen sie junge, eiweissreiche Triebe von Gräsern draussen auf der Flur, verursacht dies keinen Schaden. Denn Gräser wachsen »von unten«, nicht von oben, von den Spitzen, wie die Bäume. Deren Wachstum geht von den Knospen aus. Die Landwirte kennen dies. Sie praktizieren es seit jeher: Gras lässt sich mähen, häufig sogar. Jungwuchs von Bäumen nicht.

Daher ist die Flur der weitaus geeignetere Lebensraum für Rehe als der Wald. Mehr Bejagung zwingt sie aber noch mehr in den Wald – und vergrössert damit die Verbissschäden.

Der Rehbestand in Deutschland ist sehr gross und produktiv. Der Abschuss schöpft kaum den jährlichen Zuwachs ab, trotz grösster Bemühungen. Weil die Scheu die Rehe immer schwerer bejagbar macht.

Den Rehen geht es nämlich an sich gut in der Kulturlandschaft. Die allgemein starke Düngung hat die Pflanzen, von denen sie leben, nahrhafter gemacht. Das äussert sich in der Häufigkeit von Zwillingsgeburten. Die starke Bejagung hält den Rehbestand auf hohem Niveau. Sie führte in eine Sackgasse, aus der man nicht herauskommt, wenn noch tiefer hinein gefahren wird. Im Gegenteil. Der Verbiss steigt weiter, bis die Rehe fast ausgerottet sind. Weil die ihnen aufgezwungene Scheu verhindert, dass sie ihrer Natur gemäss weitgehend im Freien leben. Dürften sie dies, käme das nicht nur der Naturverjüngung im Wald ganz von selbst zugute, sondern die Häufigkeit der Wildunfälle würde abnehmen. Rehe, die nicht bei Nacht und Nebel über Straßen müssen, geraten auch nicht unter die Räder. Sie können lernen, sich auf den Strassenverkehr einzustellen. Was ja wohl nicht verkehrt wäre. Denn die für die allermeisten Rehe tödlichen, an den Autos aber »nur Blechschäden« verursachenden Kollisionen sind mit sehr hohen Kosten verbunden. Ohne Personenschäden an den Autos jeweils mehrere tausend Euro. Und dies bei rund 200.000 Rehunfällen pro Jahr. Also alljährlich Schäden im mehrstelligen Millionenbereich.

Ein weiterer Vorteil käme hinzu: Die Rehe würden wieder sichtbar. Wären sie nicht so scheu, liesse sich viel leichter feststellen, wie gross die Bestände tatsächlich sind. Und wie verteilt. Der Verbiss ist dafür kein guter Weiser. Er ist rein auf den Waldbau bezogen. Manche Baumarten würden in den betreffenden Wäldern nicht aufkommen, weil sie von Natur aus gar nicht vorkämen. Wie Douglasien, die im Staatsforst gepflanzt werden, oder Fichten im Auwald an der Alz, im Naturschutzgebiet mit mehr oder weniger regelmässigen Überschwemmungen.

Anzumerken ist auch, dass die seit Jahren so intensive Bewirtschaftung des Staatsforstes die Massenausbreitung der Drüsigen Springkräuter fördert, die ein Aufwachsen von Naturverjüngung der gewünschten Waldbäume verhindern. Die Rehe sind daran gewiss nicht schuld. Und auch nicht, dass früher Fichten grossflächig gepflanzt worden waren, wo von Natur aus Buchen vorkommen würden oder Laubmischwald.

Die Fehler der Forstwirtschaft sind den Rehen nicht anzulasten. Auch nicht der Gesellschaft, die dafür wieder einmal zahlen soll. Die Menschen, viele Menschen, würden bei uns gern auch mal Rehe erleben, die nicht in wilder Panik davon stürmen oder nachts eine gefährliche Vollbremsung auslösen. Mit weiter verstärktem Rehabschuss werden sich weder der Wald noch das Klima retten lassen.


Quelle: Dieser Artikel ist als Gastbeitrag von Josef H. Reichholf in der Passauer Neuen Presse erschienen.
Fotos: Mirko Fuchs