NEOZOEN – Lebewesen

NEOZOEN – Lebewesen

Juni 9, 2020 Aus Von mfsimba

Für viele Naturschützer gelten fremde Arten als Bedrohung der heimischen Natur. Abgrenzungen zwischen „fremden“ und „heimischen“ Arten sind rein künstlich. Steht hinter der biologischen Debatte auch ein ganz anderes Problem?


„Sie kommen wie eine feindliche Armee“. Wie „ein Krebsgeschwür“ befallen sie unsere Natur, „infiltrierend, metastasierend“. Mit solchen Formulierungen geisselte vor einigen Jahren ein besorgter Naturschützer in der Zeitschrift Nationalpark die Invasion fremder Arten von Pflanzen und Tieren. Man mag das für verbale Entgleisungen halten. Aber für viele Naturschützer, für die meisten wahrscheinlich, gelten „die Fremden“ auch gegenwärtig als die grösste Bedrohung der heimischen Natur gleich nach dem Klimawandel. Oder noch vor diesem, weil ihr Wuchern und Wirken längst sichtbar und nicht bloss prognostiziert ist. Der Ökologe Wolfgang Nentwig drückt die Haltung dazu in aller Deutlichkeit aus. Im Buch Unheimliche Eroberer. Invasive Pflanzen und Tiere in Europa fordert er „auf der Ebene der Europäischen Union … eine einheitliche Institution, die für invasive Arten zuständig ist und die erforderlichen Aktivitäten koordiniert“. Dabei bieten „Schwarze Listen … sich als bewährtes Mittel an…für Ausrottungsmaßnahmen“.

Sie sind also ein ernstes Problem, die fremden Arten in der heimischen Natur. Zahllose Artikel, Kommentare und viele Symposien wurden ihnen „gewidmet“. Die Flut der Äusserungen über sie entspricht den eingangs zitierten reisserischen Formulierungen mehr als die wenigen auffälligen Fremdlinge selbst. Dabei kommt der Verdacht auf, dass das, was mit solcher Vehemenz vorgebracht wird, tiefer Sitzendes verbergen und auch transportieren helfen könnte. Aber wie sieht das Problem tatsächlich aus? Worum handelt es sich bei „den Fremden“ und was richten sie an? Warum wurden sie (wie viele von ihnen?) invasiv?

Welche Arten sind fremd?

Erstaunlicherweise gibt es auf diese so einfach erscheinende Frage keine eindeutige Antwort. Die gängigen Begriffsbestimmungen bezeichnen die in einer Gegend fremden Tiere als „Neozoen“, die fremden Pflanzen als „Neophyten“. Dass mit einer solchen Benennung noch keine Klarstellung gegeben ist, liegt auf der Hand. Denn ab wann sind Arten „neu“ (neo-) und ab welcher Entfernung von ihrem Ursprungsgebiet? Die (natürlichen) Verbreitungsgebiete der Arten, Areale genannt, sind unterschiedlich weit entfernt. Sie liegen weder von Natur aus fest, noch de jure. Denn die Areale werden vergrössert oder sie schrumpfen, je nachdem, wie sich die Lebensbedingungen ändern. Fest gelegt sind nur Staatsgrenzen, deren Dauerhaftigkeit bekanntlich nicht von Dauer ist. Doch da diese den Geltungsbereich der Naturschutzgesetze und -verordnungen festlegen, sind Arten, die ganz normal jenseits der Grenze vorkommen, bei deren „Überschreitung“ neu und ggf. invasiv. Auf die natürlichen Lebensbedingungen bezogen gibt das keinen Sinn. Verwaltungsrechtlicher Handlungsbedarf entsteht, wenn die „Neuen“ erwünscht sind. Die grösste natürliche Veränderung der Areale setzte mit dem Ende der letzten Eiszeit ein, also vor rund 10.000 Jahren. Seither verschieben sich die Vorkommen und Häufigkeiten der meisten Tier- und Pflanzenarten, und zwar auch global, da die Kaltzeiten in der Tropenzone Trockenzeiten bedeuteten, die Warmzeiten aber Feuchtzeiten. Der Prozess ist nach wie vor in Gang. Von Natur aus gibt es keinen „richtigen“ Zustand, sondern lediglich zeitbedingte Zwischenzustände in langfristigen Veränderungen auf der Zeitskala von Jahrtausenden.

„Auf Deutschland bezogen gilt, dass orts- und gebietsfremde Pflanzen auf 99 Prozent der Landfläche wachsen.“
Josef H. Reichholf

Diese natürlicherweise ablaufenden Veränderungen wurde nun auf der engeren Zeitskala von Jahrhunderten stark beschleunigt, seit die Menschen nacheiszeitlich Ackerbau und Viehzucht entwickelten und einen Grossteil der Erdoberfläche aus den sich daraus ergebenden Bedürfnissen, die Nutzung der Ressourcen im Meer mit eingeschlossen, dafür umgestalteten. Auch dieser Prozess ist in vollem Gang. Nochmals schneller wurde er nach dem 2. Weltkrieg mit dem massiven Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln sowie der Ausweitung des Anbaus gebietsfremder Nutzpflanzen, allen voran Mais. Dieser ist inzwischen in Mitteleuropa die dominierende „Feldfrucht“ geworden.

Seit mehr als einem Jahrtausend, seit den mittelalterlichen Waldrodungen, gibt es bei uns keine Naturlandschaft mehr; auch nicht in den kümmerlichen Resten, die als solche bezeichnet und in noch geringerem Umfang unter Naturschutz gestellt wurden. Auf Deutschland bezogen gilt, dass orts- und gebietsfremde Pflanzen auf 99 Prozent der Landfläche wachsen. Sie bedecken die landwirtschaftlich genutzten Fluren so gut wie komplett, bestocken die Forste, die gepflanzte, keine natürlich gewachsenen Wälder sind, und füllen Gärten und Anlagen im Siedlungsbereich. Auch die deutschen Nationalparks deckt gebietsfremdes Grün. Die grössten Flächenanteile nehmen Mais, Weizen, Fichte, Hausgärten, Kartoffel, Dauergrünland, Gerste und städtische Parkanlagen ein. Mais und Kartoffel stammen aus Amerika, Weizen und Gerste aus dem Vorderen Orient, die Fichten(forste) aus Hochlagen von Mittel- und Hochgebirgen, die Pflanzen der Gärten und Parks von überall her. Die der Zahl nach häufigsten bei uns lebenden Tiere, die Haushühner, leben in ihren Wildformen in Südostasien. Schweine und Rinder wurden auch nicht hierzulande, sondern im Vorderen Orient domestiziert, was für die Schafe und Ziegen ebenso gilt. Nicht einmal die Honigbienen, um deren Fortbestand in der Kulturlandschaft gegenwärtig gebangt wird, stammen von hier. Und doch sind sie unentbehrlich geworden. Der grösste Teil der frei lebenden Tiere und wild wachsenden Pflanzen wanderte nach der frühmittelalterlichen Rodung der mitteleuropäischen Wälder ein. Die Landnahme durch die Bauern hatte ihnen neuen, geeigneten Lebensraum geschaffen, den sie seither in einem kontinuierlichen Zuwanderungsstrom nutzten. Zu diesen einst Fremden gehören Feldhase, Rebhuhn, Feldlerche, Mohn und Kornblume und fast die ganze übrige Vielfalt der Tiere und Pflanzen der Fluren. Den grössten Schub in neuerer Zeit hatte es im 18. und 19. Jahrhundert gegeben. Damals wurde aufgrund stark anwachsender Bevölkerung das Land extrem übernutzt und ausgemagert. In diesem wenig produktiven Zustand bot es vielen Arten Lebensmöglichkeiten; vor allem solchen, die mit dem Mangel zurechtkommen. Auf dieser „historischen Artenvielfalt“ des 19. Jahrhunderts beruhen nun aber unsere Vorstellungen von heimisch und fremd, auch wenn Spezialisten (zu Recht) betonen, dass die Globalisierung mit der Entdeckung Amerikas durch die Europäer eingesetzt hatte. Die Grenze zwischen (alt)heimisch und neu wird mit dem Jahr 1492 gezogen. Was seither gekommen ist, gehört zu den Neuen. Was nach 1900 ankam, zu den ganz Neuen, und was erst in unserer Zeit eintraf (oder auffällig wurde, obwohl die Arten schon seit über 100 Jahren im Lande sind!), gilt als „Alien“.

„Die Fremden dürfen nicht einfach unter Anfangsverdacht gestellt werden, nur weil wir sie und ihr Verhalten nicht kennen.“
Josef H. Reichholf

Welche Arten sind also fremd? Dem Münchner Spötter Karl Valentin zufolge „sind die Fremden nur in der Fremde fremd!“. Konkret: Es hängt vom gewählten Raum und vom Zeitpunkt ab, ob eine Art als „fremd“ oder (schon) heimisch eingestuft wird. Jede Zuordnung fällt zwangsläufig beliebig aus, weil es sich bei den Veränderungen um Prozesse in Raum und Zeit handelt. Alle Abgrenzungen sind folglich künstlich. Die vielleicht vernünftigste Definition wäre, dass (uns) fremd ist, was wir noch nicht gut genug kennen. Das ist eine Feststellung, kein Werturteil. Genau darum geht es, sich bewusst zu machen, dass fremd und vertraut mit Erfahrungen und Kenntnissen zu tun hat, nicht aber mit Wertungen vorab verbunden werden soll. Die Fremden dürfen nicht einfach unter Anfangsverdacht gestellt werden, nur weil wir sie und ihr Verhalten nicht kennen. Wer das dennoch tut, „fremdelt“ wie ein kleines Kind. Für dieses stellt das Fremdeln ein Überlebensprogramm dar, wie wir aus den Befunden der Verhaltensforschung schliessen dürfen, aber eben nur für den Kleinkindzustand. Sie wir diesem entwachsen, halten wir die Beschäftigung mit dem Fremden für die uns auszeichnende(!) Neugier, wenn wir selbst in die Fremde reisen, um Neues kennen zu lernen.

Das „Problem“ der Fremden sollte sich daher über das Vertrautwerden mit ihnen von selbst erledigen. Dass es sich grundsätzlich so verhält, geht nicht nur aus vielen Aktionen von Naturschützern zur Erhaltung von früher fremden und invasiven Arten hervor, sondern ganz unmittelbar aus den Aufwendungen des EU-Agrarhaushaltes zur Erhaltung der Ackerwildkräuter. Diese einstigen, über die Jahrhunderte hinweg mit Hacke und Handarbeit, dann seit der Entwicklung der Unkrautvernichtungsmittel (Herbizide) höchst erfolgreich chemisch bekämpften Fremdlinge werden gegenwärtig finanziell aufwändig über Ausgleichszahlungen aus dem Agrarfonds zu erhalten, zu „retten“ versucht. Als geradezu „nettes“ Beispiel aus jüngster Vergangenheit lässt sich in diesem Zusammenhang der Kampf um die Platanen im Bereich des Aus- und Umbaus des Stuttgarter Hauptbahnhofs zitieren. Die Platanen sind keine heimischen, sondern fremde Bäume, in denen die (geographisch) noch fremderen Halsbandsittiche, Papageien aus Indien, nisten, aber auch die Larven des EU-weit geschützten Juchtenkäfer oder Eremit leben. Diesem zuliebe sollten die Platanen erhalten und das Projekt „Stuttgart 21“ zu Fall gebracht werden.

Die Unterscheidung von heimisch und fremd gerät aber nicht nur in solchen Fällen in Argumentationsschwierigkeiten. Auch andere Fälle gingen ins Geld. So musste die Deutsche Bahn mehrere Millionen Euro zum Schutz der Grosstrappe in Sachsen-Anhalt ausgeben, um das dortige Restvorkommen dieser zweifellos ebenso eindrucksvollen, wie gefährdeten Vogelart nicht mit den schnellen ICEs zu gefährden. Die Trappen leben dort auf einer völlig künstlichen, absolut gebietsfremden Agrarsteppe. In ähnlicher Ausgangslage blockieren einige Feldhamster den Bau von Gebäuden oder Strassen in Unterfranken. Jäger bekämpften seit Jahrhunderten heimische Greifvögel auf das Intensivste und hielten sie sodann bis zur regionalen Ausrottung kurz, um den von ihnen Ende des 19. Jahrhunderts zum blossen Jagdvergnügen eingeführten, künstlich angesiedelten Fremdling, den Jagdfasan zu erhalten. Dieser geniesst seither den Schutz des deutschen Jagdgesetzes als Niederwild. Die neuerdings wiederkehrenden Elche, die einwanderungsbereit an den östlichen Grenzen Deutschlands stehen, und zweifellos urheimisch sind, werden dagegen ablehnend betrachtet. Auch der urheimische Bär darf (vorerst zumindest) nicht kommen. Dass dem Fischotter klammheimlich ein Comeback glückte, erregt den Zorn der Fischer, während die Jäger die Wiederkehr des Luchses zu verhindern versuchen. Heimisch zu sein, bedeutet offenbar nicht, auch Heimatrecht zu haben. Die absichtlich eingeführten Fremden bekamen solches automatisch! Eine Bluecard war für Fasan und Rebenbogenforelle ebenso unnötig, wie für Elefantengras und Hybridmais.

„Die unmittelbaren Nachbarn waren – und sind, von Ausnahmezuständen abgesehen – stets eher willkommen als die ganz Fremden, weil man sie schon gut genug kannte.“
Josef H. Reichholf

Fremd und heimisch hat sich also als höchst subjektive Sicht erwiesen. Ein Streit darum bliebe jedoch akademisch bedeutungslos, ging es nur um Zeitpunkte für die Anerkennung oder um herkunftsgemäße Nähe und Ferne. Die unmittelbaren Nachbarn waren – und sind, von Ausnahmezuständen abgesehen – stets eher willkommen als die ganz Fremden, weil man sie schon gut genug kannte. Wo immer die „östliche“ Beutelmeise westlich ihrer gegenwärtigen Hauptverbreitung nistet, begeistern sich die Ornithologen dafür. Ihr höchst kunstvolles Nest wird bestaunt. Auch dass sich die Kraniche wieder westwärts ausbreiten, löst keinerlei Klagen aus, obgleich sich die Flugsicherheit auf weitaus mehr Kranichflüge zu den Zugzeiten und insgesamt viel größere Mengen einstellen muss. Schliesslich trägt Deutschlands Fluglinie Nummer 1 den Kranich (bis zur Unkenntlichkeit stilisiert) als Symbol. Dass die metallenen Kranichflieger mit einer halben Million und mehr echten Kranichen im Luftraum zurechtkommen müssen, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Aber was ist los im Luftraum zwischen den Baumkronen in den Parkanlagen der Rheinstädte, wenn in den Höhlen der alt gewordenen Bäume indische Sittiche und südamerikanische Amazonenpapageien nisten? Dürfen die das, wo doch heimische Stare, Spatzen und Fledermäuse diese Baumhöhlen gebrauchen könnten? Da lässt sich schon Schlimmes vermuten. Nachgewiesen werden konnte eine Verdrängung der einheimischen Höhlennutzer aber nicht.

Umso mehr werden stark vermutete und befürchtete negative Effekte der Fremden auf die heimische Natur hervorgehoben. Die nordamerikanischen Waschbären wurden zu Untieren gebrandmarkt, die sich über die Eier und kleinen Jungen heimischer Arten hermachen, die Obst „klauen“ und noch dazu Lärm machen und sich überhaupt viel zu erfolgreich der Kontrolle der Jäger entzogen haben. Dass in ihrer nordamerikanischen Heimat noch etwas anderes als Waschbären vorkommt, müsste eigentlich verwundern. Noch mehr aber, dass bei uns ausgerechnet jene Lebensräume auch die reichhaltigsten und mit frei lebenden Tieren am dichtesten besiedelten sind, in denen es Waschbären gibt, bleibt unberücksichtigt. Es sind dies die Städte, allen voran die Grossstädte. In diesen verschmutzen Kanadagänse (aus Nordamerika) die Rasenflächen mit ihrem Kot, wie das die heimischen Graugänse und die seit Jahrhunderten als Ziergeflügel gehaltenen Schwäne auch tun. Die Kanadagänse sollten nicht verschmutzen dürfen, die Graugänse schon – oder auch nicht? Die von den heimischen Stockenten abstammenden Parkstockenten werden mehr oder weniger, gegenwärtig wieder „weniger“ gelitten, müssen aber zumindest rasserein gehalten werden, was im Klartext heisst, dass alles, was von der Reinheit äusserlich sichtbar abweicht, ausgemerzt werden muss (muss?). Damit wenigstens „die Ente“ rein bleibt, wenn schon sonst so allerlei buntes, den Reinhaltern artlich unbekanntes Wassergeflügel die städtischen Teiche verunziert. Oder gar hinaus ins Freie drängen könnte!

„Dass sie heimische Arten verdrängen, wird den Fremden ganz besonders nachgesagt. Immer noch gilt dies und umso stärker, je weniger von den Anschuldigungen Bestand hat.“
Josef H. Reichholf

So war der europäische (heimische) Nerz bereits grossräumig in Europa ausgerottet als gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert der amerikanische Mink aus „Nerzfarmen“ entwich bzw. gewaltsam frei gelassen wurde. Er wird nun für die viel frühere Ausrottung des Nerzes verantwortlich gemacht. Ähnliches geschah mit dem in bezeichnender Wortwahl Edelkrebs genannten Flusskrebs. Als es diesen bis zu den fernen Beskiden praktisch nicht mehr gab, wurden als Ersatz amerikanische Krebse eingeführt und ausgewildert. Peinlicherweise brachten sie der Fischerei die Krebspest mit, denn es war die Fischerei, die (wieder) Krebse haben wollte, und die auch die amerikanische Regenbogenforelle einführte, nachdem die europäische Bachforelle in den verdreckten, vergifteten Bächen und Flüssen nicht mehr leben konnte. Die fischereiliche Nutzung, auch die angelfischereiliche, bedient sich seit Jahrzehnten der künstlichen Besatzmassnahmen. Diese sind, da durch das Fischereigesetzt gedeckt, nicht nur zulässig, sondern über jede ökologische Bewertung erhaben, während Tierchen, die über Kanäle und Flussschifffahrt in den letzten Jahrzehnten verbreitet wurden, „Besorgnis erregen“, auch wenn sie von den ausgesetzten Fischen sowie von den heimischen Reihern, Kormoranen und anderen Wasservögeln gefressen werden. Tatsächlich gibt es kaum noch ein Gewässer mit einem Fischbestand, der halbwegs natürlichen, d.h. von der Fischerei unbeeinflussten Verhältnissen entspräche. In den Gewässern verhält es sich also nicht anders als auf dem Land. Alles, bis auf winzige Reste wirklich alles ist künstlich. Was bedeutet, dass auch all das, was irgendwelche Arten in dieser „Natur aus Menschenhand“ verändern, nicht auf einer ökologisch neutralen Basis beurteilt werden kann. Denn stets handelt es sich um Konflikte mit Nutzern. Deshalb fallen solche Arten als „invasiv“ auf, die irgendwie mit den Interessen und Vorstellungen von Nutzern in Konflikt geraten. Die übrigen, in weitaus grösserer Zahl vorhandenen bleiben unbemerkt oder erfreuen, wie am Beispiel der oben genannten Beutelmeise angedeutet, die Naturfreunde. Diese sorgen sich um den Artenschwund, der tatsächlich stattfindet. Verursacher sind aber nicht die wenigen Neuen, die sich erfolgreich ansiedeln, sondern die grossräumigen Veränderungen in der Landnutzung. Sie führten zu der geradezu bizarren Situation, dass in weiten Regionen Mitteleuropas mehr Arten in grösserer Vielfalt in den Städten als „auf dem Land“ leben. Die wenigen Arten, die es „in freier Natur“ schaffen, häufiger zu werden und sich auszubreiten, geraten unter den Verdacht, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung sein könnte. Denn „anständige Arten“ haben in unserer Zeit selten zu sein oder in den Beständen abzunehmen. Zunahme lässt hingegen Schlimmes vermuten.

Diese Haltung garantiert, dass die von Zeit zu Zeit vorgenommenen Bewertungen zum Zustand der Arten in unserer Natur weiterhin schlecht ausfallen. Denn „die Neuen“ werden entweder gar nicht mit in die Bilanzen einbezogen, oder geschickt ausgeklammert, denn „sie gehören ja nicht hierher“. Auf diese Weise macht man sie zu Arten 2. Klasse. Sie gehen nicht ein in die Zugewinne, während umgekehrt jede „hochgradig gefährdete“, weil (ebenso) seltene, aber vordem heimische Art die Negativbilanz besonders stark belastet. Mit Ökologie im wissenschaftlichen Sinn hat das nichts zu tun. Aber sehr viel mit Ideologie. In den Bereich der Ökologie gehören nämlich auch die tatsächlich oder vermeintlich verursachten Schäden nicht, wenn solche von fremden Arten stammen, weil Schäden der Ökonomie zuzurechnen sind. Es ist daher mehr als merkwürdig, wenn wirtschaftliche Schäden von Ökologen hervorgehoben und als Begründung für die ökologische Gefährlichkeit von fremden Arten benutzt werden. Ihr Metier sollten die von neu angekommenen, sich ausbreitenden Arten verursachten Verschiebungen im örtlichen, regionalen oder überregionalen Spektrum der vorhandenen Arten sein. Bei deren Bewertung gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass kein Zustand „der Richtige“ ist und damit nicht jede Veränderung automatisch negativ beurteilt werden darf. Vielmehr kann es nur darum gehen, die festgestellten oder mit hinreichender, nachprüfbarer Sicherheit zu prognostizierenden Folgen des Vordringens einzelner Arten zu ermitteln. Auf der Basis dieser Befunde lässt sich sekundär – und in Abhängigkeit von den Gesichtspunkten und Zielsetzungen der Nutzer – über Akzeptanz oder Gegenmassnahmen (sachlich) diskutieren. Das gilt für alle Arten, ob heimisch, neuheimische oder gerade Angekommene! Den Schäden sind Schäden, so es sich nachweislich um solche handelt. Veränderungen sind aber nur für die Betrachtungsweise solcher Kreise relevant, die keinerlei Veränderung hinnehmen wollen, weil diese in ihren fest gefügten Vorstellungen Bildstörungen verursachen würden.

Die Haltung hinter der Haltung

Dennoch gibt es sie, die invasiven Arten, und auch die Probleme, die sie verursachen, wenngleich aus anderen Gründen als üblicherweise dargestellt. Ohne hier im Detail darauf eingehen zu wollen, wuchern sie am besten dort, wo der Boden überdüngt ist. Und die invasivsten der invasiven Pflanzen bilden die sichtbare, höchst unerwünschte Reaktion auf die Bedingungen, die für die massenhafte Biomasseerzeugung durch Düngung seit den 1980er Jahren überall auf den Fluren und auch in den Wäldern herrschen. Was nun aber heissen sollte, mag doch Riesenbärenklau und Springkraut bekämpfen, wer will. Sie werden sich wie all die anderen Arten, die von der Überdüngung profitieren, nicht ausrotten lassen. Auch Waschbären und Grauhörnchen sind zu clever für eine vollständige Vernichtung; Insekten entziehen sich ohnehin durch zeitweise Seltenheit der Kontrolle. Das gilt für den Maiswurzelbohrer genauso wie für die orientalischen oder amerikanischen Küchenschaben. Die Lösung des Malariaproblems wird in Zukunft ebenso wenig in der Ausrottung der Überträgermücken liegen, die es übrigens bei uns stets, auch in den kalten Jahrhunderten der Kleinen Eiszeit bis ins späte 18. Jahrhundert, gegeben hat, weil Anopheles, die Fiebermücke, bis an den Polarkreis verbreitet vorkommt, sondern in der Bekämpfung der Erreger, also in der medikamentösen Behandlung der Menschen. Somit könnte man den daran Interessierten ihre Kleinkriegsschauplätze lassen auf dass sie Siege in Schlachten feiern können, die mittel- und langfristig nicht zu gewinnen sind. Wenn da nicht Gefährlicheres im Hintergrund stecken würde. Die pseudobiologische, unökologische Verdammung der fremden Arten fördert mit ihren Ausdrucksweisen und Argumenten die allgemeine Fremdenfeindlichkeit. Nur allzu leicht lässt sich „Ökologie“ vorschieben und dazu missbrauchen, scheinbar natürliche Begründungen für die Ablehnung der Fremden zu liefern. Die Biologie ist schon viel zu stark missbraucht worden als dass wir riskieren könnten, ihrer Haltung gegenüber fremden Arten unwidersprochen zu folgen. Noch weniger als bei den Völkern und Menschen lässt sich für „die Natur“ angeben und festlegen, was „europäisch“ ist und was nicht. Überhaupt nicht eignen sich rein politische, aus der Zeitgeschichte entstandene Gebilde, wie sie die europäischen Länder darstellen. Kein einziges hat im biologischen Sinn natürliche Grenzen, nicht einmal die Britischen Inseln. Denn sie waren bis zum Einbruch der Nordsee einige Jahrtausende nach dem Ende der letzten Eiszeit ein Teil von Festlandeuropa. Die echten, die „dauerhaften“ Inseln im Mittelmeer büßten ihre Eigenständigkeit an Tieren und Pflanzen schon in frühhistorischen Zeiten ein. Der gegenwärtige Zustand Europas (und der ganzen Erde) wird nicht von Dauer sein.

Viel wichtiger als die Bekämpfung der Neuen, der Unbekannten, wäre die intensive Vertiefung in jene wirklich zukunftsweisende Aufgabe, die auf dem Erdgipfel von Rio 1992 mit dem Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“ (sustainable development) charakterisiert worden war. Ihre Grundidee enthält nicht das starre Festhalten an einem bestimmten, aus irgendwelchen Gründen favorisierten Zustand, sondern eine vernünftige, weil nachhaltige Veränderung. Nachhaltig meint die Schaffung und Aufrechterhaltung von Ungleichgewichten, die produktiv genug sind, um den Bedarf zu decken, aber auch ausreichend stabil, um nicht ausser Kontrolle zu geraten. Nachhaltige Entwicklung bedeutet, dass die Welt von morgen eine andere als die von heute sein wird, auch für die Pflanzen und Tiere die mit und um uns leben. Alle sind sie es wert, für die Zukunft erhalten zu bleiben. Keine ist „böse“, nur weil sie fremd ist oder weil sie auf das reagiert, was ihnen von den Menschen vorbereitet wird. Denn auch in der Pflanzen- und Tierwelt gilt, dass das Angebot die Nachfrage bestimmt. Und dass man sich dort sammelt, wo Überfluss herrscht.


Quellen:Pixabay.de,
Josef Helmut Reichholf (* 17. April 1945 in Aigen am Inn) ist ein deutscher Zoologe, Evolutionsbiologe und Ökologe, der als Buchautor mit provokanten Thesen wiederholt Aufsehen erregt hat. Für Reichholf lebt Wissenschaft vom kritischen Dialog; sie muss sich ständig selbst überprüfen und auch lange für unumstößlich gehaltene Thesen gegebenenfalls neu überdenken und korrigieren. Vermeintliche Schulterschlüsse von Wissenschaft und Politik oder Industrie, zum Beispiel beim Klimaschutz oder der Drittmittelforschung, sieht er kritisch, da sie die Unabhängigkeit der Wissenschaft gefährdeten.