Die Landgrafenbuche
An der alten Heerstraße Siegen-Marburg
Was kann uns doch alles so eine alte Landstraße erzählen, wenn wir sie, die nun vergessen, still und verträumt daliegt, mit sinnigem aussuchen und andächtig ihrer Mär lauschen. Was hat sie nicht auch alles gesehen im Laufe der Zeiten, so eine alte Heerstraße wie die von Siegen nach Marburg. Die 1250 die alten Raubritter von Bicken und von Wilnsdorf, wie sie einen vornehmen Reisenden überfielen, ausraubten und für eine Zeit gefangen nahmen. Aber den Missetätern sollte die Tat übelbekommen. Der einst hier Gefangene bestieg den päpstlichen Stuhl. Es war Papst Urban IV., der fanatische Feind und Verderber der letzten Hohenstaufen, und von Rom aus traf nun der Bannfluch die armen Übeltäter, aus dem sie erst 1264 wieder gelöst wurden. Da sah sie um 1416 hessische Ritter mit ihrem Heerhaufen siegestrunken dahinziehen. Sie hatten trotz ihrer Minderzahl dem fehdelustigen Grafen Johannes mit der Haube von Nassau in der Stippach bei Herborn eine gründliche Niederlage beigebracht und führten nun zahlreiche gefangene nassauische Ritter mit sich, die dann in den Türmen von Königsberg, Blankenstein, Biedenkopf und Marburg untergebracht wurden. Jubelnd ließen sie das erbeutete Papier des Nassauer Grafen im Winde wehen und brachten es schließlich als stolze Siegestrophäe in die Kirche der heiligen Elisabeth zu Marburg.
Ja die alte Heerstraße hat das Leben in seiner bunten Mannigfaltigkeit gesehen. Sie sah die Reichen, vornehme Grafen mit stattlichem Geleite, reiche Handelsherren mit ihren langen Warenzügen. Sie sah die Armen, die übermütigen fahrenden Schüler und all das hungernde fahrende Volk, von dem das Volkslied trauernd singt:
Sie sind gewandert hin und her,
Sie haben weder Glück noch Stern,
Sie sind verdorben gestorben.
Besuchen wir heute einmal die alte Heerstraße in ihrer Mitte, wo sie einst auf den Höhen die Grenze zwischen Hessen und Nassau kreuzte, und hören wir, was sie uns hier zu erzählen weiß. Es ist die Kunde von alter Hessentreue, die einst hier dem aus 5jähriger, schmachvoller Gefangenschaft heimkehrenden Landgrafen Philipp dem Großmütigen jubelnden Empfang bereitete.
Da sah sie an jenem Herbsttage, dem 10. September 1552, von Osten her Hunderte und Aberhunderte von treuen Hessen herbeieilen; unter ihnen hoch zu Roß die vier Söhne des heimkehrenden Landgrafen, die in dessen Abwesenheit das Land verwaltet hatten, die hessischen Räte, der tapfere Hofmarschall Wilhelm von Schachten (1), der ein Jahr später auf blutiger Wallstatt bei Sievershausen (2) sein Heldenleben aushauchte, der Sekretär des Landgrafen Wilhelm, Simon Bing, und der Vizekanzler Heinrich Lersner, und bei ihnen zum Ehrengeleit 100 schmucke hessische Arkebusiere. (3) In freudiger Erwartung schauten sie hier an der Landesgrenze nach dem Zug des nun endlich wieder in sein Land zurückkehrenden Landgrafen Philipp.
Und endlich nahte von Westen her der andere Zug: Philipp der Großmütige mit mehreren Hessen, Kurt Diede, einem Mitglied des geheimen Rates in Kassel, Eberhard von Bruch, der zum Hofstaate seines Herrn während der Gefangenschaft gehört hatte, und Adam Trott, dem Rat und Hofmarschall des Markgrafen von Brandenburg-Kulmbach, begleitet von einer stattlichen Ehrenwache von 800 spanischen Reitern.
Über 5 Jahre war Philipp der Großmütige von seinem treuen Hessenvolke getrennt gewesen, nachdem er am 19. Juni 1547 auf der Moritzburg zu Halle durch eine schnöde Hinterlist des Kaisers Karl V: in schmachvolle Gefangenschaft geraten. Wohl hätte sich ihm bald das Gefängnis gewendet, wenn Philipp dem Kaiser in Religionsangelegenheiten zu willen gewesen wäre. Aber im festen Glauben an die erkannte Grundwahrheiten der heiligen Schrift hatte er sich mutig bekannt; eher will ich von Land und Leuten, von Leib und Leben lassen, denn von Gottes Wort weichen. So war ihm ein hartes Gefängnis in den spanischen Niederlanden geworden. Allerlei Demütigungen mußte er dort von dem übermütigen und rohen Offizier der Wache erdulden. Dieser hatte einmal, als der König von Frankreich sich anschickte mit Waffengewalt den Landgrafen zu befreien, sogar die Drohung ausgestoßen: ehe der Landgraf lebend in die Hände des Königs käme, wolle er ihn mit eigener Hand durchbohren. Hoffnung hielt den Hohen Gefangenen in den dunklen Tagen seiner Gefangenschaft aufrecht, und so hatte er auch in seiner Bibel dort im Gefängnis den Vers dick unterstrichen: Hoffnung läßt nicht zu schanden werden.
Endlich brachte das Jahr 1552 dem gefangenen Landgrafen die ersehnte Freiheit wieder. Kaiser Karl V., durch des Landgrafen Schwiegersohn, den Kurfürsten Moritz von Sachsen und durch dessen berühmten kühnen Zug bis hin nach Innsbruck in die Enge getrieben, hatte sich, wenn auch widerwillig, im Passauer Vertrag zur Freigebung des Landgrafen verstehen müssen. Freilich nicht eher gab er seinem mißtrauischen Sinn den Befehl zur Loslassung des Gefangenen, als bis der Vertrag endgültig angenommen und unterschrieben war. Und auch dann gab es noch ärgerliche Verzögerung, denn der ränkesüchtige Bischof von Arras, der schon bei der Gefangennahme des Landgrafen zu Halle eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte, hielt den kaiserlichen Befehl tagelang zurück, und der hartherzige Hauptmann der spanischen Wache gab trotz der Vorstellungen der spanischen Statthalterin der Niederlande, der Königin Maria, den Gefangenen nicht eher frei, als bis er den Befehl mit eigenhändiger Unterschrift des Kaisers in den Händen hatte.
So öffnete sich dem Landgrafen erst am 4. September 1552 die Tür seines Gefängnisses. Mächtig trieb es ihn heim in sein angestammtes Hessenland. Nach den Bestimmungen des Passauer Vertrages, nach den er nach dem damals hessischen Schloß Rheinfels über St. Goar geleitet und dort empfangen werden sollte, hätte er einen Umweg machen müssen. Und so erbat er sich von der Königin Maria, auf geradem Wege über Jülich, Köln und Siegen die Heimreise antreten zu dürfen, welche Bitte ihm auch gern bewilligt wurde.
In Terauen hatte er sich von der Königin Maria verabschiedet und diese gab ihm auf die Heimreise bis an die hessische Grenze die erwähnte Ehrenwache der 800 spanischen Reiter mit. Zunächst mit Geleitbriefen von dem Herzogtum Jülich und dem Erzbistum Köln versehen, trat er die Heimreise an. Von Jülich aus erbat er sich am 6. September von dem Grafen Wilhelm dem Reichen von Nassau-Dillenburg sicheres Geleite, das ihm auch durch einen Brief, datiert aus Dillenburg den 8. September zugesichert wurde. Wohl sah Nassau, wie uns ein Brief von Wilhelm von Oranien vom 9. September aus dem Feldlager zu St. Corneliusmünster an seinen Vater Wilhelm dem Reichen zeigt, dem Kommen des Landgrafen mit einigem Mißtrauen entgegen, bestand doch immer noch zwischen Hessen und Nassau damals der Katzenellnbogische Erbfolgestreit. Dennoch begegnete Graf Wilhelm dem langjährigen Dulder auf dessen Durchreise durch die nassauischen Lande mit aller Freundlichkeit. Er reiste dem Landgrafen von Dillenburg nach Siegen entgegen und geleitete diesen, der am 9. September in Siegen eintraf, als seinen Gast auf das Siegener obere Schloß.
Graf Wilhelm der Reiche schrieb darüber am 12. September von Dillenburg an seinen Sohn, dem Prinzen Wilhelm von Oranien:
“Ferner will e.I. (euer Lieben) ich nit bergen, das landgraf Philips zu Hessen, als er im herzotumb Gülch gewesen, mir umb paß schriftlich und lebendigs gleit ime durch durch mein gepiet zu vergonnen und mitzutheilen schreiben lassen. Welche ich ime nit zu weigern gewust, sonder mitgetheilt hab. Als ist er den 9. September gegen abnet in Siegen bei mir in komen, die nacht daselbst verplieben, sich viel und hoch zu gute erpoten. Des sampstags morgens hab ich s.g. (seine Gnaden), so fern mein gepiet uf Marburg sich erstreckt und uf meinem weg wider uf Dillenberg gewesen, das gleit gegeben. Da s.g. auch frolich und guter Ding gewesen und sich freuntlich und hochlich erpoten haben, wie e.l. dessen alles von meinet gnedigsten frau konigin Maria verordnetes gleitsmannen gonnern, in irer hinabkunft weiter vernemen werde.“
Auf der alten Heerstraße Siegen-Marburg näherte sich nun Philipp der Großmütige mit seinem Reiterzuge immer mehr der hessischen Grenze. Ueber die Hainbacher Höhe bis nach Ebersbach begleite ihn Graf Wilhelm der Reiche. Hier in Ebersbach, wo wohl das Amtshaus Herberge bot, hatten beide noch einmal eine Aussprache wegen der katzenelnbogischen Erbschaft, und Graf Wilhelm empfing von dem Landgrafen die freundlichsten Versicherungen, daß er zur gütlichen Beilegung dieses alten Streites zwischen ihnen geneigt sei.
Heller Jubel erschallte nun oben an der Landesgrenze von Hessen und Nassau zwischen Steinbrücken und Simmersbach, als oben auf der Höhe Landgraf Philipp der Großmütige mit seinem Zuge eintraf. Tiefe Bewegung ging durch die Versammelten, als dort der nach so langer Gefangenschaft heimkehrende Landgraf von seinen Söhnen und Räten umarmt wurde. Große Rührung ging durch das das treue Hessenvolk, als es seinen heißgeliebten Landesvater wiedersah und an ihm schaute, welch schwere Leiden er überstanden hatte. Die harte Gefangenschaft hatte ihn alt gemacht und sein Haar gebleicht.
Eine fehlte freilich bei diesem Empfang. Es war die treue, heldenmütige Gemahlin des Landgrafen. Sie weilte nicht mehr unter den Lebenden; ihr hatte der Schmerz über das Unglück ihres Gemahls das Herz gebrochen, nachdem sie sich zweimal für die Befreiung ihres Gemahls vor dem Kaiser Karl V. gedemütigt und noch von ihrem Sterbebette aus eine rührende Bittschrift an den Kaiser gerichtet hatte. Als darum später Philipp der Großmütige unter dem Jubel der Bürger in Cassel einzog, da war sein erster Gang dort zum Grabmal seiner Gattin in der Martinskirche. Hier kniete er nieder und verblieb lange Zeit in dieser demütigen Stellung versunken im Gebet und in der Erinnerung an die schicksalsschweren Tage der Vergangenheit, bis die ersten Töne der Orgel anhoben und der ambrosianische Lobgesang die Kirche durchbrauste.
Das war es, wo einst an jenem Herbsttage die alte Heerstraße bei Simmersbach schaute: Hessentreue und Liebe zwischen Fürst und Volk. Tage kamen und gingen. Da sah die Heerstraße wieder etwas seltsames. Schlichte Landleute von Simmersbach kamen hinauf auf die Höhe und pflanzten oben, wo der Empfang stattgefunden, ein kleines Buchenbäumchen, ein lebendes Denkmal an jenem ersehnten und geschauten Tag der Heimkehr ihres geliebten Landgrafen.
Jahrhunderte kamen und gingen. Die alte Heerstraße lag nun wie vergessen da und konnte träumen von vergangenen Zeiten. Da kam wieder ein großer Tag, ein sonniger Herbsttag, der 11. September 1910. Hunderte kamen oben hinauf auf die alte Heerstraße; ein schlichter Gedenkstein ward droben eingeweiht neben der alten Landgrafenbuche, um unsere schnelllebige Zeit zu erinnern, an die großen Reformation, um einsame Wanderer hier oben noch in späten Zeiten zu erinnern an alte und junge Hessentreue, wie der stolze Vers auf dem Denkstein sagt:
Wenn einstmals in der weiten Welt,
die Treu der Klugheit räumt das Feld,
sonst nirgend eine Ruhstatt
hätte, das Hessenland bleibt ihre Stätte.
- Wilhelm von Schachten (* um 1500; † 31. Juli 1553 in Kassel) war Marschall des Landgrafen Philipp I. von Hessen und Mitglied des Regentschaftsrates, der dem jungen Sohn Philipps, Wilhelm IV., während der 5-jährigen Gefangenschaft Philipps 1547-1552 in den Niederlanden beistand. Wilhelm von Schachten entstammte einem alten landgräflich-hessischen Ministerialengeschlecht, den Herren von Schachten, dessen Stammsitz im nordhessischen Dorf Schachten bei Grebenstein war. Als Landgraf Philipp im Juni 1547 nach Halle reiste, um sich Kaiser Karl V. zu unterwerfen, wurde Wilhelm von Schachten – zusammen mit Philipps Kanzler Heinrich Lersner sowie Rudolf Schenk zu Schweinsberg und Simon Bing – Mitglied des Regentschaftsrates, der Philipps Sohn Wilhelm IV. und seiner Mutter Christine von Sachsen bei der Verwaltung der Landgrafschaft beistand, bis Philipp im September 1552 aus der kaiserlichen Gefangenschaft wieder nach Kassel zurückkehrte. Im Herbst 1551 waren Wilhelm von Schachten und Simon Bing als hessische Bevollmächtigte an den Verhandlungen mit dem französischen Gesandten, dem Bischof Jean V. von Bayonne, und den Vertretern Sachsens, Brandenburgs und Mecklenburgs in Friedewald und im Jagdschloss Lochau beteiligt, die schließlich zum gegen Kaiser Karl gerichteten Vertrag von Chambord zwischen der protestantischen Fürstenopposition im Reich und König Heinrich II. von Frankreich führten. Am 9. Juli 1553 befehligte er im Zweiten Markgrafenkrieg ein Aufgebot von 700 hessischen Rittern auf der siegreichen sächsisch-braunschweigischen Seite in der blutigen Schlacht bei Sievershausen gegen Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach. Dabei wurde er so schwer verwundet, dass er drei Wochen später starb. Er wurde in der Kirche St. Martin in Kassel beigesetzt.
- Zwischen Sievershausen und Arpke fand am 9. Juli 1553 die Schlacht bei Sievershausen statt. Die Teilschlacht im Zweiten Markgrafenkrieg mit rund 30.000 Kämpfern und etwa 4.000 Toten war (neben der Schlacht bei Lutter 1626) eine der blutigsten kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsens. 300 Jahre nach der Schlacht wurde 1853 ein Gedenkstein für Kurfürst Moritz aufgestellt.
- Arkebusierreiter waren ab dem 16. Jahrhundert Kavallerie-Einheiten, die mit Arkebusen kämpften. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die Arkebuse vom Herzog von Alba in den Niederlanden als Reiterwaffe von 1 bis 1,3 m Länge eingeführt, die Kugeln von etwa 29 g verschoss, nachdem sie ein Radschloss erhalten und, um ihr Verloren gehen zu verhüten, an der linken Seite mit einer Stange mit Ring versehen worden war, in den ein Federhaken (Karabinerhaken) eingehakt wurde.
Herausgeber: Mitteilungen aus Geschichte und Heimatkunde des Kreises Biedenkopf, Vereinsblatt des „Geschichtsvereins für den Kreis Biedenkopf“ 4. Jahrgang, 22. Okt. 1910, Nr. 10
Beitrag: Pfarrer Nebe Bergebersbach