Fressen Hirsch und Reh den Wald auf?

Fressen Hirsch und Reh den Wald auf?

Dezember 15, 2024 Aus Von mfsimba

Ein Blick auf Ökologie, Ökonomie und Mythos

Das Narrativ, dass Rehe und andere große Pflanzenfresser wie Rotwild (Hirsche) den Wald schädigen, stammt ursprünglich aus den Kreisen der Waldbesitzer. Insbesondere der Ökologische Jagdverband trägt dieses Bild stark mit. Diese „Wald-vor-Wild“-Ideologie konnte sich in den 1980er Jahren etablieren, nachdem höchste Gerichte in Deutschland den Einfluss von Rehen und Hirschen auf den Wald als eine Art „schleichende Enteignung“ der Waldbesitzer beschrieben hatten. Dieses Urteil legte die Grundlage für zahlreiche Veränderungen in Wald- und Jagdgesetzen, die bis heute die Forst- und Jagdpolitik prägen. Interessanterweise wird diese Sichtweise inzwischen auch von großen Naturschutzverbänden unterstützt.

Die Debatte hat in den letzten Jahren durch die extrem trockenen Sommer erheblich an Brisanz gewonnen. Die Idee, einen klimaresilienten Wald zu schaffen, wird oft mit einer drastischen Reduzierung des Rot- und Rehwildbestands verknüpft. Dabei wird jedoch häufig übersehen, dass es bei dieser Diskussion weniger um ökologische als vielmehr um ökonomische Interessen geht – ein Aspekt, den die Gerichte bereits in den 1980er Jahren zutreffend festgestellt haben.

Wildtiere wie Rehe und Rotwild sind nicht nur ein wesentlicher Bestandteil des Waldes, sondern spielen auch eine wichtige Rolle im ökologischen Gleichgewicht. Durch ihre Nahrungsaufnahme beeinflussen sie das Wachstum von Pflanzen und die Artenzusammensetzung des Waldes. Natürlich können Überpopulationen lokal zu Problemen führen, insbesondere wenn junge Bäume stark verbissen werden und sich nicht ausreichend regenerieren können. Allerdings ist es eine Vereinfachung, Wildtiere pauschal als Schädlinge darzustellen.

In naturnahen Wäldern, in denen keine übermäßigen Eingriffe durch den Menschen stattfinden, reguliert sich die Population oft durch natürliche Fressfeinde wie Wölfe oder Luchse sowie durch das begrenzte Nahrungsangebot von selbst. Das eigentliche Problem entsteht vor allem in stark vom Menschen bewirtschafteten Forsten, in denen Monokulturen dominieren und natürliche Regulierungsmechanismen fehlen.

Die Diskussion um einen klimaresilienten Wald ist eng mit wirtschaftlichen Interessen verknüpft. Viele Waldbesitzer streben einen Waldumbau an, der auf ertragsstarke Baumarten wie Douglasie oder andere Nadelbäume setzt. Diese Arten sind jedoch in ihrer Jugend besonders anfällig für Verbissschäden. Statt die Verantwortung für diese Anfälligkeit zu übernehmen, wird der Druck auf Wildbestände erhöht, um eine möglichst verlustfreie Bewirtschaftung zu gewährleisten.

Dabei sollte ein wirklich ökologisch orientierter Waldumbau auf eine größere Baumartenvielfalt setzen, die von Natur aus widerstandsfähiger gegen Schädlinge, Krankheiten und klimatische Extrembedingungen ist. Mischwälder, die Laub- und Nadelbäume kombinieren, bieten nicht nur eine höhere Resilienz, sondern auch einen natürlichen Schutz gegen übermäßigen Wildverbiss, da das Nahrungsangebot für die Tiere vielfältiger ist.

Ein Schlüssel zur Lösung des Konflikts könnte in der Förderung natürlicher Regulierungsmechanismen liegen. Die Rückkehr von Wölfen und Luchsen in deutsche Wälder zeigt, dass diese Raubtiere eine wichtige Rolle im Ökosystem spielen können, indem sie den Wildbestand auf natürliche Weise kontrollieren. Gleichzeitig müssen wir den Waldumbau so gestalten, dass er die Bedürfnisse aller Beteiligten – Menschen wie Tiere – berücksichtigt.

Das Ziel sollte nicht eine Maximierung des Holzertrags um jeden Preis sein, sondern die Schaffung eines gesunden, ökologisch stabilen Waldes, der den Herausforderungen des Klimawandels gewachsen ist. Dazu gehört es auch, den Beitrag von Wildtieren im Ökosystem anzuerkennen und sie nicht allein als Schädlinge zu betrachten.

Rehe und Rotwild „fressen“ nicht unseren Wald auf. Vielmehr sind sie ein integraler Bestandteil des Ökosystems, das von vielen Faktoren beeinflusst wird – von Monokulturen über den Klimawandel bis hin zu menschlichen Eingriffen. Die derzeitige „Wald-vor-Wild“-Ideologie blendet diese Komplexität oft aus und fokussiert sich einseitig auf die Reduzierung von Wildbeständen, ohne die tieferliegenden Ursachen zu adressieren. Ein nachhaltiger Umgang mit Wald und Wild erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl ökologische als auch ökonomische Aspekte berücksichtigt und auf natürliche Regulierung setzt.


M. Fuchs